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Blog 24.06.2021 | Gleichstellung – Politik

«Wir brauchen einen neuen Fruchtbarkeitsbegriff»

Meinrad Furrer ist Beauftragter für Spiritualität von Katholisch Stadt Zürich. Im Mai 2021 spendete der Seelsorger vielen Menschen Hoffnung, als er die Liebe von schwulen und lesbischen Paare öffentlich segnete – kurz nachdem der Vatikan mit einem Segnungsverbot gleichgeschlechtlicher Liebe weltweit für Empörung sorgte. Sarah Paciarelli traf Meinrad Furrer in Zürich, wo sich die beiden über Liebe, Sexualität, und katholische Realitäten austauschten.

Sarah Paciarelli und Meinrad Furrer beim Interview in Zürich

Meinrad Furrer, worin besteht Ihr Job?

Ich arbeite im Team von Kirche urban. Wir schaffen Räume für Menschen, welche nicht im Rahmen des traditionellen Pfarreilebens nach Spiritualität und Sinn suchen. Wir experimentieren mit neuen Formaten im urbanen und digitalen Raum. Dabei arbeiten wir bewusst mit Partner:innen zusammen, ich z.B. mit der Pride und der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK. Die katholische Kirche war lange Zeit eine Innovationsmaschine. Diese Kompetenz haben wir verloren. Wir brauchen neues Knowhow, weil wir mit der alten Ästhetik urbane Menschen  nicht mehr erreichen. Wir suchen neue Räume für spirituelle, liturgische und gemeinschaftliche Erfahrungen, um die bestehenden zu ergänzen. So haben wir zum Beispiel eine DJane und einen Organisten zusammengebracht, um den Gottesdienst musikalisch zu begleiten.

Sie haben im Mai 2021 gleichgeschlechtliche Paare in Zürich gesegnet. Warum?

Liebe ist kein Sonntagsspaziergang. Das Leben kann der Liebe sehr böse spielen. Das Grundgebot der jüdisch-christlichen Kultur ist es, Sorge füreinander zu tragen. Es braucht sehr viel Kraft, Vertrauen und Aufrichtigkeit, um eine Beziehung am Leben zu halten. Dafür braucht es Bestärkung. Rituale wie die Segnung einer Verbindung haben eine stärkende Wirkung. Eine Segnung ist ein Ritual, welches die Liebeskraft Gottes zuspricht. Diese Kraft haben alle Menschen verdient, oder?

«Eine der Frauen, die ich segnete, sagte mir, sie hätte dreissig Jahre auf diese Segnung gewartet. Das hat mich tief berührt.»

Frauen stehen in der römisch-katholischen Kirche nicht alle Wege offen. Was würden Sie als Seelsorger Frauen raten, die sich ausgegrenzt fühlen und mit dem Gedanken an einen Kirchenaustritt spielen?

Dasselbe, was ich einem queeren Menschen (Anm. d. Red.: «queer» ist ein Sammelbegriff für Personen, deren geschlechtliche Identität und/oder sexuelle Orientierung nicht der heteronormativen Norm entspricht) Menschen sagen würde: Wenn der Schmerz grösser, die Gestaltungsräume hingegen immer kleiner werden und ein Austritt Linderung in Aussicht stellt, dann ist das eine legitime Option. Ein Austritt ist auch ein symbolischer Akt, um den erfahrenen Verletzungen entgegenzuwirken. Dennoch würde ich zunächst versuchen im Gespräch herauszufinden, ob die Person Möglichkeiten sieht, sich in der Kirche für Veränderung zu engagieren und sie dazu ermuntern – auch nach einem Austritt – die Suche nach Spiritualität nicht aufzugeben.

 

Eine zentrale Aufgabe der Kirche ist es, heilsam zu wirken. Ist die katholische Kirche derzeit heilsam für die LGBTQIA-Community (Anm. d. Red.: Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender sowie Queer-, Intersex- und asexuelle Menschen)?

Die Katholische Kirche Zürich ist heilsam. Wir wollen heilsam wirken und das tun wir. Die symbolische Wirkung unserer Arbeit ist wichtig, denn Sichtbarkeit gibt der LGBTQIA-Community Identität und holt sie aus dem Schattendasein. Wir brauchen positive Identifikationsmöglichkeiten. Wenn ein junger Mensch im Laufe seiner Identitätssuche von Anfang an mit negativen Stereotypen und Vorurteilen konfrontiert ist, ist das sehr schmerzhaft. Gerade weil die religiösen Institutionen an der Schaffung dieser Bilder stark beteiligt waren, ist jetzt ihre Mitwirkung bei der Schaffung neuer, positiver Bilder gefragt.

Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt. (Rosa von Praunheim)

Ich werde oft gefragt, ob katholisch und feministisch zusammengeht. Der Spagat zwischen Kirchenlehre und Realität ist nicht leicht. Machen Sie diese Erfahrung auch? Katholisch und queer, wie vereinen Sie das?

Das Label «katholisch» hat viel Abschreckungspotenzial. Die lebendige Kirche vor Ort hat eine andere Realität als die Lehre. Ich bin dankbar, dass die Realität verstärkt zur Kenntnis genommen wird und das Bewusstsein darüber wächst, dass die Lehre auch einer historischen Entwicklung unterworfen war und immer sein wird. Die weltweiten Reaktionen auf das Segnungsverbot der Glaubenskongregation machten das klar. Die Kirche hat die Pflicht, so besagt es auch das zweite vatikanische Konzil, die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums zu deuten. Dazu gehört nicht nur die Bewahrung der Schöpfung und das Wachen über soziale Gerechtigkeit, sondern auch die Anerkennung unserer Vielfalt.

Wie ist das mit der Sexualität und der katholischen Kirche?

Das Problem der katholischen Kirche mit der Ehe für alle liegt in ihrer Sexualmoral. Diese besagt, dass Menschen nur dann Sex haben dürfen, wenn sie die Ehe eingehen. Eine Ehe eingehen dürfen aber nur ein Mann und eine Frau, die sich fortpflanzen wollen. Diese Sexualmoral betrifft ganz viele verschiedene Menschengruppen, nicht nur Schwule und Lesben, auch Menschen, die vor der Eheschliessung Sex hatten oder heterosexuelle Paare, die keine Kinder zeugen wollen. Auch Menschen nach einer gescheiterten Beziehung fallen aus dem Rahmen. Haben Sie mal von der «Theologie des Leibes» von Papst Johannes Paul II gehört? Darin spiegelt sich der spirituelle Schatz wider, den Sexualität in sich birgt. Das leugnet auch die katholische Kirche nicht…bis der Punkt mit der Ehe und der Fortpflanzung kommt. Dann ist Schluss. Das grenzt sehr viele Menschen aus.

Brauchen wir einen neuen Fortpflanzungsbegriff?

Wir brauchen einen neuen Fruchtbarkeitsbegriff. Fruchtbarkeit heisst nicht nur Leben zu zeugen, sondern vor allem Leben zu ermöglichen. Als Mensch in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung kann ich das mit ebenso viel Liebe, Fürsorge und Verantwortung.

«Es herrscht Sehnsucht nach einer Kirche, die vor der Realität ihrer Gläubigen nicht die Augen verschliesst.»

Die Schweizer Bischofskonferenz ist gegen die Einführung der Ehe für alle. Sie ist der Ansicht, dass die ethischen Auswirkungen im Zusammenhang mit der Fortpflanzungsmedizin und dem Recht des Kindes weitragend sind. Welche Risiken bestehen, wenn – wie derzeit – die Beziehungen von Kindern zu ihren tatsächlichen, primären Bezugspersonen nicht rechtlich abgesichert sind?

Es ist absurd zu glauben, dass queere Menschen keine Familien gründen. Queere Familien existieren und wir schützen das Kindswohl nicht, indem wir diese Tatsache ignorieren. Wir schützen Kinder, indem wir diesem Umstand Rechnung tragen und Gesetze erschaffen, die die Beziehung von Kindern und ihren tatsächlichen Bezugspersonen anerkennen.

Es gibt Menschen, die behaupten, ein Kind brauche Mutter und Vater. Was sagen Sie dazu?

Wenn das so wäre, dann müssten wir aber ganz schnell ein nationales Notfallprogramm für all die Alleinerziehenden da draussen einleiten (lacht). Nein, im Ernst: Es gibt etliche Studien, die zeigen, dass gleichgeschlechtliche Familien keinen negativen Einfluss auf Kinder und ihre Entwicklung haben. Worunter diese Kinder leiden, sind gesellschaftliche Stereotype und Vorurteile.

Was ändert sich, wenn die Schweiz die Ehe für alle annimmt?

Es gibt viele Studien, die zeigen, dass die psychische Gesundheit von queeren Menschen in Ländern mit Ehe für alle verbessert wird. Queere Menschen lieben auf dieselbe Weise, sie tragen auf dieselbe Weise Sorge zu ihren Partner:innen, haben dieselben Bedürfnisse und Sehnsüchte, sorgen sich auf dieselbe Weise um ihre Kinder. Es ist richtig, Queers die Möglichkeit zu bieten, ihrer Liebe einen gesetzlichen Rahmen zu geben. Das sind wir ihnen auch aus demokratischer Sicht, aus der Überzeugung von der Gleichheit aller Bürger:innen, schuldig.

Sarah Paciarelli

Kommunikation

Ja zur Ehe für alle

Der Verbandsvorstand des Schweizerischen Katholischen Frauenbunds spricht sich seit 2001 öffentlich für eine Öffnung der zivilen und kirchlichen Ehe für gleichgeschlechtliche Paare aus. Gleichgeschlechtliche Paare sollen die Möglichkeit haben, ihrer Beziehung einen gesetzlichen Rahmen zu geben.

Das Wichtigste in Kürze

  • Der Verbandsvorstand des SKF sagt Ja zur Ehe für alle.
  • Wir sprechen uns dafür aus, dass Kindsbeziehungen rechtlich abgesichert sind.
  • Gleichgeschlechtliche Paare sollen Zugang zum Stiefkind- sowie zum Volladoptionsverfahren erhalten.
  • Als Interessenvertretung von Frauen befürworten wir die Samenzellspende für lesbische Paare.
  • Wir teilen die christliche Sicht auf die Ehe aus Ausdruck einer verantwortungsvollen Liebe zweier Erwachsener.

Zum Haareraufen ist die Situation von LGBTQIA-Menschen in der römisch-katholischen Kirche, findet Meinrad Furrer | © zVg
 

1 Kommentar

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Hagemann Marcel - geschrieben am 13.10.2022 - 21:11 Uhr

Die christkatholische Kirche ist hier bereits angekommen. Der Zentralismus des Vatikan bestärkt den Konservatismus.