Home Aktuelles Zwischen Selbstverwirklichung und Gemeinschaft
Blog 01.09.2023 | Frauenbande 2.0 – Freiwilligenarbeit – Vereinsleben

Zwischen Selbstverwirklichung und Gemeinschaft

Vor bald 50 Jahren wurde ich in Kursen für die Jugendarbeit mit der Geschichte «Das kleine Ich-bin-Ich» ermutigt, mich selbst und meine individuellen Talente zu entdecken und diese selbstbewusst zu leben. Dieses Kinderbuch war in den Siebzigerjahren Teil der zunehmenden Individualisierung, in der das kollektive WIR in den traditionellen Milieus und Normen aufgebrochen und der Begriff der Selbstverwirklichung die Zivilgesellschaft, die Wirtschaft, die Institutionen und die Politik mehr und mehr prägte.

Der Wandel war enorm, primär für uns Frauen, sekundär auch für die Männer. Frauen wurden vom Objekt zum Subjekt, wurden stimm- und wahlberechtigt, konnten eigenständig einen Arbeitsvertrag unterzeichnen, über das eigene Konto verfügen oder die Scheidung einreichen. Das ICH wurde gestärkt. Das war wichtig, weil es darum ging, Abhängigkeiten aufzudecken und ungerechte Machtstrukturen aufzubrechen.

Die Entwicklung ging jedoch so weit, dass sich diese ICH-Kultur zu stark auf Kosten des grösseren WIR ausbreitete. Der maximale persönliche Nutzen (Vorteil, Genuss, Gewinn etc.) wurde zum Entscheidungskriterium für das Handeln, unabhängig von den Auswirkungen auf die Mitwelt (Menschen und Natur). Die Verhaltensweise gab es sowohl bei Individuen wie Unternehmungen und Institutionen. Bis heute hat sich diese Entwicklung fortgesetzt und wird durch die politische Polarisierung noch verstärkt. Es werden eher Ideologien vertreten als das Gemeinwohl gestärkt.

Individualisiert und vereinsamt

Eine direkte Auswirkung dieses Megatrends Individualisierung ist die Vereinsamung von Menschen. Das Gefühl, die Gewissheit oder die Erfahrung, nicht wirklich dazu zu gehören, betrifft Menschen jeden Alters. Corona hat zusätzlich dazu beigetragen, dass das Phänomen der Vereinsamung sich pandemisch ausbreitet. Die Gründe dafür sind sowohl strukturell wie individuell: Kultur und Sprache, Bildungsniveau und Fachkompetenz, Lebensform, Geschlecht und Aussehen, finanzielle Verfassung etc. Trotz oder vielleicht auch wegen den schier unbegrenzten Kommunikationsmöglichkeiten fühlen sich viele abgehängt.

Auch im SKF ist dieser Megatrend seit längerem spürbar. Als Ortsverein Mitglied im Kantonalverband und damit im Dachverband zu sein, wird in den Vorständen von Ortsvereinen bzw. Frauengemeinschaften regelmässig diskutiert. Dabei wird die Frage nach dem Nutzen einer Mitgliedschaft oft einseitig monetär beurteilt, nämlich: Was haben wir als Frauenverein davon, dass wir jährlich Fr. 2.– pro Mitglied an den Kantonalverband und Fr. 6.– an den Dachverband weiterreichen? Setzen wir diesen Beitrag nicht besser vor Ort ein? Brauchen wir diese Dienstleistungen von Vernetzung, Weiterbildung, Beratung und Coaching wirklich?

Aha-Erlebnisse stärken Zugehörigkeit

Frauen, die die SKF-Frauenbande an einer Grossveranstaltung des Dachverbands erleben, berichten danach nicht selten vom Aha-Erlebnis eines grösseren WIR: Wow, als Mitglied unserer Frauengemeinschaft bin ich Teil dieses grossen Netzwerks von engagierten Frauen, welche die Welt schöner, lebenswerter und gerechter machen.» Dass sich dieses Netzwerk weit über die kirchliche Bubble in der Schweiz und darüber hinaus erstreckt und sich für #GleicheWürdeGleicheRechte von Frauen in Politik, Gesellschaft und Kirche einsetzt, wird konkret. Solche Erfahrungen öffnen den Blickwinkel und bestärken viele in ihrem Wirken vor Ort.

Das ICH ist wirksamer im WIR

In diesem Sommer haben in der Schweiz so viele Grossveranstaltungen wie noch nie stattgefunden. Menschen jeden Alters halten sich Monate oder gar Jahre im Voraus Tage im Kalender frei, um zu bestimmten Sport- oder Kulturveranstaltungen zu pilgern. Sie lassen sich dabei von einer grossen Sehnsucht leiten, in ein grosses WIR einzutauchen und mit anderen zusammen etwas Einzigartiges zu erleben. Welcher Act oder welche Sportart dies ist, ist oft sogar zweitrangig. Die Atmosphäre des Events allein genügt schon, um dafür viel Zeit und Geld einzusetzen.

Daran wollen wir anknüpfen, wenn auch nicht in diesem Ausmass… Die Anzahl Teilnehmerinnen an SKF-Veranstaltungen wie der Delegiertenversammlung oder dem Impulstag haben deutlich abgenommen. Ich bin aber nach wie vor überzeugt, dass neben dem vermehrt digitalen Austausch analoge Treffen für die Frauenbande wichtig sind. Dabei geht es eben nicht um einen Höhepunkt von ein paar Stunden, sondern um Beziehungen, die lange anhalten und bestärken, sich weiterhin für ein grösseres WIR einzusetzen, in dem ALLE ICHs ein gutes Leben haben. Wir wirken weiter!

 

Simone Curau-Aepli

Die SKF-Vorstandspräsidentin schreibt ihre Sicht zu aktuellen Themen in jeder Ausgabe der Verbandszeitschrift Qu(elle). Weil der Platz dort knapp ist, ist die ausführliche Version hier zu lesen.

Delegierte aus allen Kantonen an der Delegiertenversammlung in Wil SG © Izedin Arnautovic
Ein spiritueller Input vor dem Mittagessen an der Delegiertenversammlung in Wil SG © Izedin Arnautovic
Impulstag zu Frauenbande 2.0 in Zürich ZH © Angelina Müller
Ein Prost auf die Frauenbande 2.0 © Angelina Müller
 

1 Kommentar

Kommentar schreiben

Margrit Kunz-Bürgler - geschrieben am 18.10.2023 - 14:44 Uhr

Liebe Simone
Vielen Dank für Deinen Blog. Du hast ein bedeutsames Thema angesprochen. Ich bin auch der Überzeugung, dass wir Menschen Verbundenheit brauchen, dass dies die tragende Basis ist, um leben zu können.
Und wir müssen den Balanceakt wagen zwischen der Eigenfürsorge und der Sorge für das grosse Ganze.